PURPLE PATH

»C the Unseen« am Purple Path

Man merkt der Landschaft ihre bewegte Geschichte nicht sofort an. Um Chemnitz herum erstrecken sich das Erzgebirge, Mittelsachsen, das Zwickauer Land. Wer dortunterwegs ist, sieht Fichtenwälder undFlüsse, Moore und Bergwiesen. Am südlichen Horizont erscheinen der Keilberg und der Fichtelberg. Erholungsgebiete. Doch jahrhundertelang interessierten sich Reisende und Zugezogene kaum für Höhenluftund Gipfeltouren. Das was sie wollten lag darunter: tief im Berg.

Im Jahr 1168 wurde in der Nähe des heutigen Freiberg Silbererz entdeckt. Manbegann Stollen in den Fels zu treiben. Kurz darauf kam Zinn hinzu. Das Land spendete Wohlstand, man sprach vom großen »Berggeschrey« – es wurde in ganz Europa gehört. Es wurden Eisenerze gefunden, Blei, Kobalt, Kaolin, Nickel, Zink und Zinn – und schließlich Uran. Im Atomzeitalter deckte die Sowjetunion hier 60 Prozenet ihres Bedarfs. Das sächsische Gestein schien unerschöpflich zu sein.

Jede Landschaft hat ein Gedächtnis. Die 850-jährige Geschichte des Bergbaus hat sich tief eingegraben in die Region. Alle Wege und Straßen, alle Siedlungen und Anlagen haben irgendwie damit zu tun.

Diese Geschichte will für das 21. Jahrhundert neu gelesen und interpretiert werden. »C the Unseen« lautet der Leitgedanke der Kulturhauptstadt Europas 2025. Chemnitz und die Region werden Besucherinnen aus der ganzen Welt empfangen. Deren Fotos, Filme und Berichte werden die redaktionellen und sozialen Medien vieler Länder füllen. Es verbreitet sich ein vielfältiges, bisher weithin ungesehenes, multiperspektivisches Bild der Region zwischen Mittweida und Schwarzenberg, Olbernhau und Hohenstein-Ernstthal.

Das zentrale künstlerische Angebot der Kulturhauptstadt 2025 ist der Purple Path: ein Skulpturenparcours mit Arbeiten von mehr als 70 internationalen und sächsische Künstlerinnen. Er verbindet Chemnitz und 38 Städte und Gemeinden durch die Kunst; diese rückt hier in den Mittelpunkt der Kultur.

»Der Purple Path ist ein Storyteller, ein Geschichtenerzähler«, sagt der Kurator Alexander Ochs. »Wir haben nach Kunst gesucht, mit der wir Geschichten und dieGeschichte neu erzählen können, ohne sie zu instrumentalisieren.« Die künstlerischen Arbeiten des Purple Path fördern das zutage, was unter der Landschaft liegt. Sie machen Kontexte sichtbar. Und sie stellen die Frage, was sein könnte – welche Zukunft wir wollen. Die Bodenschätze hier waren in Wirklichkeit nie unerschöpflich. Es gab immer wieder Umbrüche, Krisen, Neuanfänge.

»Alles kommt vom Berg her«: Das historische Motto wird beim Wort genommen. Metall als Werkstoff ist der Ausgangspunkt vieler Werke des Purple Path. Der Künstler Friedrich Kunath etwa hat Bronze gewählt. In Thalheim ist seine Skulpturengruppe »Include me out« bereits installiert: Sechs Fichten stehen im Kreis und halten sich an den Ast-»Händen«. Eine siebte Fichte findet sich ins Abseits gestellt, sie scheint nicht dazuzugehören. Die Arbeit ist beispielhaft darin, wie Bezüge herstellt werden. Zur Künstler-Existenz: Kunath, der im damaligen Karl-Marx-Stadt aufwuchs und heute in Kalifornien lebt, drückt ein Bedürfnis nach Heimat und Zugehörigkeit aus – mit Blick auf die Außenseiterposition, die Künstlerinnen oft zugewiesen wird. Zur Ökologie: Einst ließ der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz in Sichtweite von Kunaths Arbeit Fichtenwälder zur Holzgewinnung anlegen; er war Pionier einer nachhaltigen Forstwirtschaft. Im Zuge des Klimawandels befinden sich diese Wälder im Niedergang. Zur Gesellschaft: Jahrhundertelang war das Erzgebirge ein Melting Pot, hier wurden Millionen Migrantinnen integriert – wer kann heute den Anspruch erheben, über Zugehörigkeit und Fremdsein zu bestimmen?

Geschichten verweisen auf Geschichte: Über QR-Codes sind jeweils Hintergründe zu den Arbeiten des Purple Path abrufbar. Die Künstlerin Henrike Naumann stammt aus Zwickau; in Chemnitz wird sie ein lange verdecktes offizielles Wandbild, das ihr Großvater Karl Heinz Jakob zu DDR-Zeiten malte, wieder freilegen und seine politischen Motive neu zur Diskussion stellen. Der irische Künstler Sean Scully platziert seine Münzen-Skulptur »Coinstack« in Schneeberg; auf digitalem Weg erfährt man Hintergründe zur Geschichte eines der ersten Bergarbeiterstreiks im 15. Jahrhundert. Damals sollte den Arbeitern einer von ihren zehn Groschen Wochenlohn weggenommen werden, was zu dem Aufstand führte – ein früher Meilenstein der Arbeiterbewegung.

»Es geht nicht darum, den White Cube in die Region zu tragen«, sagt Alexander Ochs. »Wir wollen die Kunst ja gerade aus ihrem scheinbar normalen Umfeld herausholen.« Die Arbeiten der Künstlerinnen akzentuieren Orte, die etwas bedeuten für die Geschichte und den Alltag der jeweiligen Stadt oder Gemeinde: öffentliche Plätze und Museen zur Technik-, Textil- und Landwirtschaftsgeschichte, Kirchen und Bergbaustätten, Zentren und Randzonen. Tanja Rochelmeyer etwa hat Wandbilder für die Unterführung des alten Bahnhofs in Flöha geschaffen. Auf 38 Tafeln greift »Glance« die Geschichte der Einwanderung auf, die eng mit diesem Bahnhof verknüpft ist. Richard Longs Arbeit »Petrified Wood Circle« aus versteinertem Rot- und Zedernholz wurde in der Chemnitzer Kirche St. Jakobi platziert. Von hier aus führt ein Pilgerweg ans Ende des Jakobswegs, ins spanische Santiago de Compostela, wo eine andere Arbeit von Long nun beide Stätten signalhaft verbindet.

Der Purple Path knüpft ein symbolisches Netz – aber nicht nur das. Er belebt auch ganz real die Verkehrswege und weckt den Sinn für Erkundungen und Begegnungen. Auf Autotouren lassen sich Landschaften, Burgen, Schlösser und Kirchen mit ihren Cranach- und Bergaltären neu entdecken. Wander- und Radwege werden ausgebaut, für die öffentlichen Verkehrsmittel werden eigene Angebote entwickelt. Chemnitz ist der Ausgangspunkt, doch lässt sich die Tour von jedem der anderen 38 Orte aus beginnen. Der Purple Path folgt damit einer antihierarchischen Idee.

Die Kunst steht im Mittelpunkt der Kultur. Das bedeutet auch: Vieles lässt sich anschließen. Lokal: mit Vereinen, Theatergruppen, Literaturzirkeln, Bands und Orchestern. Und international: In mehreren Städten entstehen »Maker Hubs«, Werkstätten, in denen die reiche handwerkliche Tradition der Region weiter geführt wird. Künstlerinnen und Handwerkerinnen aus ganz Europa werden hierher kommen, um mit ihren ortsansässigen Kolleginnen zu arbeiten. Unter dem Titel »European Neighbours« nehmen die Partnerstädte der beteiligten sächsischen Orte an einem großen Fotokunstprojekt teil.

Unsere Gegenwart steht im Zeichen der Krise: Klimakatastrophe, Populismus und Krieg beherrschen die Nachrichten. Die alte Bergbauregion um Chemnitz hat immer wieder Krisen erlebt: wenn die Wirtschaft zusammenbrach, und ein Rohstoff plötzlich auslief oder nicht mehr gebraucht wurde. Die Verwerfungen der Nachwendezeit und die Identitätskrisen der Gegenwart sind noch nicht überwunden.

»C the Unseen«: Der Purple Path ist ein künstlerisches Angebot all das mit neuen Augen zu sehen, Möglichkeiten der Heilung alter Wunden zu finden, und (wieder einmal) eine bessere Zukunft zu entwerfen. Dafür steht auch die Farbe Violett (Purple). Nach christlicher Tradition ist sie die liturgische Farbe der Empathie in der Passionszeit, sowie des Aufbruchs und der Hoffnung im Advent. Dem christlich geprägten Bergbau ist diese Symbolik eingeschrieben. Eine weltlich-utopische Variante davon hat der Philosoph Ernst Bloch in seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« beschrieben. Dessen ursprünglich geplanter Titel lautete: »The Dreams of a Better Life«.

Daran schließt schließt der Purple Path an. Er erinnert an die regionale Tradition, sich mit Witz und Erfindungsreichtum aus schwieriger Lage zu befreien. Und er wirbt für Toleranz, Offenheit und gute Nachbarschaft. Kurator Alexander Ochs sagt: »Wir werden Europas Kinder und Jugendliche einladen.« Der Blick geht nach vorn.